9. Begegnung mit Paul

Großer Waldstein – Weißenstadt – Grub (sehr schöne Etappe)
Großer Waldstein – Weißenstadt – Grub (sehr schöne Etappe)

Großer Waldstein - Weißenstadt - Grub


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Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern

Sonntag, der 12. August 2012.

Wir fangen unsere Etappe natürlich wieder am Großen Waldstein an. Dafür parken wir an der Bushaltestelle, an der wir gestern Abend in den Bus gestiegen sind. Wir wollen noch einmal den kurzen Weg zurück zum Waldstein, dann weiter über Weißenstadt zum Dörfchen Grub. Das sind ca. 12 Kilometer. Uns reicht das.

 

Das Wetter ist fantastisch. Endlich einmal purer Sonnenschein und blauer Himmel. Es ist noch früh am Tag, als wir am Waldsteinhaus ankommen. Alles still und menschenleer. Heute, an diesem schönen Sonntagmorgen im August, ist das wohl eine Art Ruhe vor dem großen Sturm.

 

Peter läuft nun auch zu den Waldsteinfelsen hinauf, um selbst Fotos zu machen. Ich kaufe ein paar Ansichtskarten und schreibe heitere Nachrichten für die Daheimgebliebenen. Und, ich staune: es gibt tatsächlich einen Briefkasten hier oben. Der muss doch genutzt werden!

Briefkasten am Großen Waldstein
Briefkasten am Großen Waldstein

Die unfreiwillige Komik der Radfahrer

Während ich in den ersten Sonnenstrahlen sitze und vor mich hin schreibe, rauschen Radfahrer schon durch das eigentliche Ausflugsziel.

Ein einzelner Biker kommt neben einem größeren Holzpodest – es gehört zur »Felsenbühne Waldstein« – zum Stehen, keuchend guckt er sich schnell um, entdeckt auf der Bühne eine sehr kleine hölzerne Kapelle, welche ein Teil der Kulisse eines Theaterstücks ist. Es ist offensichtlich, er kann keine Erklärung für das Gesehene finden. Da ergeben die Steinstufen zu den Waldsteinfelsen doch eine klarere Botschaft: Hier muss man hinauf! Jener Aufforderung folgt er auch prompt, hebt sein Rad auf die Schulter und steigt los, hält dann doch inne und kehrt wieder zurück. Ich versuche, seine Gedankengänge zu ergründen: Das wird zu eng! Das Fahrrad, wohin damit? … Aber ohne das Sportgerät scheint es keine Wege zu geben. Und schon saust er auch weiter, den Berg wieder hinunter.

Im Hintergrund: Die kleine Kapelle aus Holz ist Kulisse für die Felsenbühne Waldstein
Im Hintergrund: Die kleine Kapelle aus Holz ist Kulisse für die Felsenbühne Waldstein

Dann kehrt Peter von seinem kleinen Felsen-Ausflug zurück und wir ent­schließen uns spontan zum Sonn­tagsfrühschoppen. Warum wir dazu in den Gastraum gingen, erklärt sich mir heute nicht mehr. Aber kaum nachdem wir Platz genommen haben, »rollt« schon der nächste Radfahrer herein, stürzt an die Theke und hechelt: »Der Radweg? Wo geht der weiter?«

»Dort hinten, den Berg wieder runter!«, antwortet die Bedienung gebets­müh­lenartig ohne vom Zapfhahn aufzublicken.

»Ach, so!«, und schon stolpert er wieder hinaus. Kein Danke, kein Auf-Wie­dersehen. 

»Wenn man den ganzen Tag in die Pedale tritt, dann schüttelt’s wahrschein­lich das Hirn derartig nach unten, dass auch die guten Sitten im Arsch sind«, meint Peter.

 

Ich gehe zur Toilette, dicht gefolgt von einer Radlerin. Sie ist schnell, auch im »Eiergang« mit den klackernden Radschuhen. Sehr schnell. Sie ist vor mir fertig, wäscht sich die Hände, ohne dafür ihre Radhandschuhe auszuziehen, und dann findet sie den Knopf am Papierspender nicht. Egal, nass weiter. Sehen und Ansehen sind unwichtig. Haupt­sache Rapidität. Sogar im eigenartigen Hockgang auf Matschbeinen ist sie schnell, die Radfahrer-Kaste.

Radverkehr am Großen Waldstein
Radverkehr am Großen Waldstein

Dann finden wir am Waldstein noch das Bärenfang-Gebäude. Hier steht die 2. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten«.

Waldstein mit Bärenfang

Der Lehrer von Jean Paul, Th. Helfrecht, hat das Fichtelgebirge beschrieben. Es lässt Einblicke zu, wie sich die Landschaft seit dieser Zeit verändert hat.

 

»Unterhalb der höchsten Felsen bemerkt man zur Rechten einen etwas freien Platz, wo die vormaligen Bewohner des Roten Schlosses Feldbau und einigen Wiesenwuchs hatten.«

 

J. Th. B. Helfrecht, um 1800

Beim Bärenfang wurde 2006 ein steinerner Bär aufgestellt
Beim Bärenfang wurde 2006 ein steinerner Bär aufgestellt

Aus Wikipedia:

… Der Bärenfang ist ein Gebäude des 17. Jahrhunderts, in das Bären getrieben und dann gefangen gehalten wurden. Der Bärenfang auf dem Großen Waldstein im Fichtelgebirge ist ein Jagddenkmal und gilt als das einzige erhaltene Gebäude seiner Art. …

 

Ein interessanter Wikipedia-Eintrag zum Thema »Geschichte des Bärenfangs«! Es lohnt sich, ihn ganz zu lesen.

So schön nach Weißenstadt ...

Der Weg bergab ist wunderschön, viel schöner, als ihn die Karte vermuten ließ. Er ist weich, klein, schattig, wie gemacht für Fidels Pfoten. Überall kann er schnuppern. Wir staunen über des Pudels eigenes Kino. Jeder einzelne Halm wird besucht, einer nach dem anderen. Dann hält er inne, scheint sich zu überlegen, wie denn der Film eigentlich anfing. Jetzt schnuppert er noch einmal beim ersten Halm nach, um sich des Anfangs zu erinnern. Erst dann, wenn der Verlauf schlüssig ist und damit das Ende zum Anfang passt, trollt er sich weiter.

 

In der Ferne hört man Familien plaudern. Frauenstimmen plätschern unentwegt, Männer schweigen, vorauslaufende Kinder jauchzen und rufen sich Entdeckungen zu. So sonntäglich.

 

Aber die in der Karte hier an dieser Wegstelle angekündigte Stationstafel 39 finden wir nicht, obwohl wir lange suchen. Sie wäre ein großer, feierlicher Ostersonntag gewesen und hätte sehr gut gepasst, jetzt.

Versunken in der Natur

 

.... Nun tritt auch die Erdensonne auf die Erdengebirge und von diesen Felsenstufen in ihr heiliges Grab; die unendliche Erde rückt ihre großen Glieder zum Schlafe zurecht und schließet ein Tausend ihrer Augen um das andre zu. Ach welche Lichter und Schatten, Höhen und Tiefen, Farben und Wolken werden draußen kämpfen und spielen und den Himmel mit der Erde verknüpfen – sobald ich hinaustrete (noch ein Augenblick steht zwischen mir und dem Elysium), so stehen alle Berge von der zerschmolzenen Goldstufe, der Sonne, überflossen da – Goldadern schwimmen auf den schwarzen Nacht-Schlacken, unter denen Städte und Täler übergossen liegen – Gebirge schauen mit ihren Gipfeln gen Himmel, legen ihre festen Meilen-Arme um die blühende Erde, und Ströme tropfen von ihnen, seitdem sie sich aufgerichtet aus dem uferlosen Meer – Länder schlafen an Ländern, und unbewegliche Wälder an Wäldern, und über der Schlafstätte der ruhenden Riesen spielet ein gaukelnder Nachtschmetterling und ein hüpfendes Licht, und rund um die große Szene zieht sich wie um unser Leben ein hoher Nebel. – – Ich gehe jetzo hinaus und sink’ an die sterbende Sonne und an die entschlafende Erde.

 

Jean Paul »Die unsichtbare Loge«

»Die unsichtbare Loge«. Noch habe ich mich nicht an sie herangetraut. Aber jetzt fange ich an. Bisher konnte ich immer nur hier und da Abschnitte lesen, herausfischen, was eh in mir verblieben ist, von den schönen Worten. Und da finde ich in der »Loge« auch diese wieder: die »Ostindischen Gewürzinseln«. Von ihnen war schon auf Stationstafel 12 in Hof zu lesen. Bei mir muss einer nur das Wort »Insel« erwähnen, schon entfaltet sich ein ganzer Blütenbaum von Poesien und Fantasien in mir. So wie bei Shakespeares »Sturm«. Das Stück bräuchte ich hierfür gar nicht mehr zu lesen, theoretisch. »Der Sturm« spielt auf einer ge­heimnisvollen »Insel«. »Insel!« Ging es Jules Verne auch so?

Die unsichtbare »Unsichtbare Loge«

Oh welch’ eine Freude! Ich habe sie im Roman gefunden, die Textstelle der Stationstafel 39. Sie leuchtet am Ende der Einleitungskapitel zur zweiten Auflage von Jean Pauls erstem Roman. Titel: »Die unsichtbare Loge«, Untertitel: »Eine Lebensbeschreibung«, dann: »Motto – Der Mensch ist der große Ge­dankenstrich im Buche der Natur – Auswahl aus des Teufels Papieren«, dann folgt ein zweiter Titel: »Mumien«, dann: »Erster Teil«, und: »Entschuldigung – bei den Lesern der sämtlichen Werke in Beziehung auf die unsichtbare Loge«, dann: »Vorrede zur zweiten Auflage«, dann: »Vorredner – in Form einer Reisebeschreibung«, dann endlich fängt der Roman an.

 

Jean Paul versicherte sich wohl gern aller Perspektiven, bevor er zum Eigent­lichen des Geschehens kommt. Und auch dort verweilte er nie ohne Seiten­blicke, Standortwechsel und Zeitverschiebungen, die sich dann auch noch ziemlich labyrinthisch miteinander verstricken. Wie konnte man damals solchen Geschich­ten voller Gedanken folgen? Die Leser, die sich interessierten, hatten wohl Zeit, denke ich mir. 

 

Betrachtet man die heutige zeitlose Zeit und die britische Neuverfilmung von Sherlock Holmes, die mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman, die schnell und komplex ist, auch alles in einander verwoben ist, nein nicht wie bei Jean Paul, aber doch irgendwie so, dass man kaum mithalten kann, jedenfalls ich nicht, dann beginne ich zu starren, schaue, bin fasziniert, immer wieder, Wiederholung für Wiederholung. Ein mir rätselhaftes Phänomen. Ich lese Jean Paul (bis jetzt nur stellenweise) und bin auf die selbe Art wohlig erstarrt. Starre vor vollkommener Faszination. So, wie man stundenlang ins Feuer starren kann. Und tief innendrin ahnungslos etwas zu ahnen beginnt.

 

»Die unsichtbare Loge«, Jean Paul klärt sie nicht auf, soviel kann man sagen. Aber diese unsichtbare Loge ist da. Wir alle sind von unsichtbaren Logen um­geben, die unseren Leben zuschauen, um dann auf uns zu wirken, ohne dass man sie dabei sieht. Und das verstört, ewiglich, gestrig und zukünftig.

 

Das eigentliche Ende dieser Vorrede aber, ist für mich das wirklich Spannende und Entscheidende: Das ist der letzte Satz »Ich trat hinaus – –«. Auf der Tafel wurde er weggelassen.

Noch einmal im Ganzen:

»Ich gehe jetzo hinaus und sink; an die sterbende Sonne und an die entschlafende Erde. 

Ich trat hinaus – –«

 

Und dann? Was ist dann mit ihm passiert? 

Auf dem Jean-Paul-Weg – vor Weißenstadt
Auf dem Jean-Paul-Weg – vor Weißenstadt

Es geht weiter, aus dem Wald hinaus, immer leicht bergab. Weite Felder tun sich auf. Wir streifen das Dorf Ruppertsgrün, das vor Weißenstadt liegt. Hier finden wir Stationstafel 40.

Ruppertsgrün – Bärenjagd

 

Die Richters kamen ursprünglich aus dem Vogtland, aus Oelsnitz. Etwa um 1465 wanderten viele Bewohner dieses Ortes in das Fichtelgebirge aus. Die Richters ließen sich in der Weißenstädter Gegend, in Ruppertsgrün und Voitsumra nieder.

 

Von Hans Richter, einem Bauern in Ruppertsgrün, der im frühen 16. Jahrhundert lebte, ist folgende Geschichte überliefert: er habe, heißt es beim Chronisten Pöhlmann, »einen Bären oberhalb des Dorfes, allwo dessen Sohn Fritz Richter das Vieh hütete und ein Stücklein Vieh vom Bären angefallen worden, erschossen. Als nun solch Bären totschießen gleich ruchbar worden, hat jedermann dem Bäuerlein deshalb große Furcht und Angst eingejaget. Endlich hat sich das Bäuerlein einen Mut gefasst und hat den erschossenen Bären auf einen Gestellwagen geladen und ist damit auf Bayreuth zu gefahren, hat auch mit seinem Fuhrwagen nicht über den Schlosshof fahren dürfen, sondern den Bären mit Beihilfe seines Sohnes Fritzen, der noch ein geringer Jüngling war, tragend hineinschleppen müssen. Da habe Seine Hochfürstliche Durchlaucht eben herunter auf den Platz gesehen und befohlen den Bären hinauf vor ihn samt den Bauer zu bringen, und als nun dieses geschehen und der tote Bär zur Stelle dalag, da haben dann Seine Hochfürstliche Durchlaucht das Bäuerlein gefragt, ob er diesen Bär totgeschossen habe, das Bäuerlein hierauf treuherzig geantwortet: Ja! Seine Hochfürstliche Durchlaucht ferner ihn gefraget, ob er sich getraue, mehr Bären zu schießen, das Bäuerlein gleichfalls geantwortet: Ja! Wenn es mir nur erlaubt wäre! Hierauf habe es Ihre Durchlaucht auf des Bauern so treuherziges Bekenntnis gnädigst gesprochen: So sollst du Förster zu Weißenstadt werden.« 

 

Er hat ihm das Anvertraute viele und lange Jahre bis an sein Ende ehrlich und rühmlich versehen.

Auf der Webseite von Ruppertsgrün heißt es:

… Schon 1346 wird es urkundlich genannt. 1499 hatte es 8 Höfe. 1525 wütete hier die Pest fürchterlich. Im 30-jährigen Krieg musste Ruppertsgrün schwere Schäden erleiden. Damals wurde es letztendlich von seinen Bewohnern verlassen und erst wieder 1661 belebt. 1676 war es noch ringsum von Wald umgeben. 1840 brannten 8 Gebäude bei einem Großbrand total ab. Bekannt wurde das Dorf dadurch, das Hans Richter in der Markgrafenzeit 1650 einen Bären unbefugt tötete. Er zeigte aber viel Mut und wurde schließlich markgräflicher Förster. Er war einer der Urahnen Jean Pauls. …

 

Aha! Der Furchtlose war wohl mehr vor der Hochfürstlichen Durchlaucht furcht­los als vor dem Bären.

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Jetzt kommen wir in die Niederungen und endlich zum See. Wasser! Weiches, weites Wasser. Das tut gut. Der Weißenstädter See ist ein, von der Eger und dem Hirtenbach gespeister, künstlich angestauter See und der größte im Herzen des Fichtelgebirges. 

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Der Weißenstädter See
Der Weißenstädter See

Um den See herum führt eine vier Kilometer lange See­promenade, die heute sehr belebt ist. Skater und natürlich Radfahrer, so viele davon, dass wir Mühe haben, den asphaltierten Weg schadlos zu überqueren, da steht nämlich die nächste Stationstafel 41.

Hund und Mensch

 

Man verbindet sich oft mit einem Menschen, wenn man ihn nach dem Namen seines Hundes fragt.

 

Der größte Hass ist, wie die größte Tugend und die schlimmsten Hunde, still.

 

Wie will man etwas gegen die Hunde haben, da der große ruhig dem kleinen vergibt, und der kleine kühn den größten anfällt. Ich wollte, wir wären Hunde.

 

Mit einem blutfremden Hunde ist eine Unterredung noch saurer auszuspinnen als mit einem Engländer, weil man den Charakter und Namen des Viehes nicht kennt.

Heute geben sie am See ein Fischerfest, ausgerichtet vom Fischerverein Weißenstadt. Beschaulich, einladend. Bier und Bratwürste, Kaffee und Kuchen und Musik. Uns steigt der Duft von Gegrilltem in die Nase. Wir folgen ihm und finden eine uns unbekannte Art, Fische zu grillen: Man hat hier einfach Sand auf die Wiese geschüttet, eine blecherne Rinne draufgestellt, sie mit glühender Holzkohle befüllt, und dann mit Fischen bestückte Spieße rechts und links neben der Rinne so in den Sand gesteckt, dass sie sich genau über dem Feuer kreuzen.

Fischgrillen auf dem Fest des Fischervereins Weißenstadt
Fischgrillen auf dem Fest des Fischervereins Weißenstadt

Fischgrillen auf dem Fest des Fischervereins Weißenstadt

Wir verweilen und genießen ein braunes Bier. Dann weiter auf der Promenade. Es gibt Parkbänke zuhauf. Von hier aus kann man auch den Großen Wald­stein und den Schneeberg sehen. Auf dem See fliegen Surfer und Segler über das glitzernde Wasser. Kinderjauchzen, das leise Plochen von Ballspielen, eingeflochten mit Ohs und Ahs, all das bimmelt uns aus der Ferne Ferienerinnerungen ins Gemüt.

 

Am Nordufer liegt der Kinder- und Nichtschwimmer-Badestrand. Er gleitet besonders flach ins Wasser. Hier ist überall Platz genug, sogar am heißen Au­gust­sonntag. Wir baden heute im Sonnenmilchduftsee und dösen ein wenig auf der bunten Kicherwiese.

Nichtschwimmer-Badestrand am Weißenstädter See
Nichtschwimmer-Badestrand am Weißenstädter See

Und hier finden wir Stationstafel Nr. 42, so schön dazu passend.

Kinder-Spiele

 

Das Spiel ist die erste Poesie des Menschen.

 

Im Tiere spielt nur der Körper, im Kinde die Seele.

 

Vergeßt es doch nie, daß Spiele der Kinder mit toten Sachen darum so wichtig sind, weil es für sie nur lebendige gibt. Ich kenne nämlich für Kinder in den ersten Jahren kein wohlfeileres, reines Spielzeug als Sand. Die zweite Spielgattung ist Spielen der Kinder mit Kindern.

 

Spiele, d. h. Tätigkeit, nicht Genüsse, erhalten Kinder heiter.

Fidel trifft seinen Doppelgänger

Dann findet auch Fidel seine ganz ureigene Freude: Er trifft sein alter ego – einen anderen Pudel. 

 

Bei Wikipedia lese ich zu »alter ego«: 

… Ein wahrer Freund ist gleichsam ein zweites Selbst. …

 

Jean Paul würde hier sagen: seinen »Doppelgänger«. Das Wort »Doppelgänger« ist Jean Pauls Erfindung.

 

Fidel erkennt seine Doppelgänger immer schon von Weitem. Sofort beginnt er vor Freude zu fiepen und kann sich kaum beruhigen, so heimatlich ist ihm seine Begegnung mit anderen Pudeln. Wirklich, einem Original und seinem Spiegelbild gleich, bewegen sie sich zunächst tänzelnd umeinander, dann folgt sehr respektvolles Schnuppern, unter leichtem Schwanzwedeln. Alles ohne irgendeine Aufdringlichkeit. Dann setzt sich das Ritual so fort, dass sie sich gegenüber platzieren, in der typischen Warte-Liege-Haltung: den Kopf zwischen die Vorderpfoten gelegt.

 

Natürlich kommen die beiden entzückten Pudelbesitzer sofort miteinander ins Gespräch. Der kleine andere Pudel ist schwarz und gehört einer betagteren Dame. Es ist ihr erster Hund. Sie hat noch ein wenig Stubenrein-Stress mit ihrem Schütz­ling. Wir beruhigen sie und sagen, dass sie noch viel Freude mit ihrem neuen Freund haben wird. Sie wolle alles richtig machen, sagt sie, so wie, dass der Hund eigentlich aus dem Schlafzimmer verbannt werden sollte, so hätte man es ihr erklärt. Aber da habe er ihr nachts vor die Tür gemacht. »Ich weiß schon, dass ich selbst schuld bin», sagt sie. »Weil ich ja so den Hund nicht sehen kann, wenn er Bedürfnisse anzeigt.«

 

Wir erzählen ihr, dass Fidel auf dem Bett schlafen dürfe. Er haare ja nicht und läge nachts mucksmäuschenstill am Fußende. »Und«, füge ich hinzu, »auch ein alter Hund wie Fidel muss mal nachts. Dann springt er auf, stellt sich still vor das Bett und wartet, bis ich wach werde. Ich gehe dann mit ihm kurz vor die Tür und alles ist gut.«

 

Der Pudel passe sich sehr gerne an alles an, einzig dafür, dass er immer dabei sein dürfe. Das Wort »pudelwohl« käme auch nicht von irgendwo her, denn der Pudel an sich habe ein derart heiteres Gemüt, dass es jeden anstecke, der ihn sieht. Jedem Menschen, der uns entgegenkommt, zaubere er ein Lächeln ins Gesicht. Das würde auch uns froh machen.

»Wie heißt er denn?«, will ich noch wissen.

»Paul«, sagt sie und da macht es einen kleinen Jauchzer in unseren Herzen: Da ist Paul! Paul lebt!

Pudel Fidel und Pudel Paul
Pudel Fidel und Pudel Paul
Pudel Paul ist noch jung
Pudel Paul ist noch jung

Auch Jean Paul hatte einen Pudel, was wir aber erst von Eberhard Schmidt, dem Besitzer des Jean-Paul-Museums in Joditz, erfahren haben. Wer, wenn nicht wir, könnten Jean Pauls Zuneigung zu Pudeln besser verstehen? 

Ja, »Hund und Mensch« ist ein langes, schönes und schreckliches Kapitel.

Jean Paul war ein Freund der Hunde, der Tiere überhaupt und auch ein Freund der Menschen, was sich nicht immer zwangsläufig bedingt. Wie viele Menschen gibt es, die sich aus Enttäuschung an ihrer eigenen Spezies nur noch den Tieren zuwenden. Da war Jean Paul anders. 

 

Aber bleiben wir bei den Hunden. Es war ein fixes Bild: Dichter mit Hund. Egal, wo Jean Paul erschien. Hierbei spielte das Tier beileibe nicht nur die Rolle eines Begleiters, sondern die eines nahezu ebenbürtigen Kommunikations­partners. Zuerst war es sein Spitz, genannt Alért. Er muss alt geworden sein.

Zuerst das Schöne

Folgende Zitate stammen aus Eduard Berend »Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen«. 

Eduard Berend, 1883‒1973, war einer der Jean-Paul-Forscher. Als Jude wurde er während der Nazizeit aus der Jean-Paul-Gesellschaft ausgeschlossen und im KZ Sachsenhausen interniert.

 

1817 schreibt Heinrich Voß d. J. (Prof. der Philologie in Heidelberg, Übersetzer 1779‒1822) an seinen Bruder Abraham Voß (Philologe, Schulmann, Übersetzer, 1785‒1847):

… Des Morgens um 1/2 8 Uhr geht Jean Paul mit seinem Hund und dem Schreibzeuge und einer Flasche Wein auf die Sattler-Müllerei, und vor dem Gartenhäuschen oben auf der Höhe setzt er sich zum Arbeiten hin. Nun sind in allen Häusern, die Fenster dahin haben, Tubus (Fernrohr) auf ihn gerichtet; und gestern machte ich mir den Spaß, ihn auch ein paar Stunden durch unseren Dollondschen (John Dollond, Erfinder des Achromatischen Teleskops) zu beobachten. Er saß da ganz nachdenklich und begeistert, schrieb – manchmal mit Hast, dann wieder piano –; dann nahm er ein Schlückchen Wein; dann kappte er die Feder; dann sprach er mit seinem Hunde Alért, was höchst komisch aussah, da man die Worte bloß sah und nicht hörte; dann spazierte er auf und ab, besah die Gegend und schrieb wieder. Daß er in der Einsamkeit so viele Zeugen hat, ahnet er nicht …

 

Im selben Jahr schreibt Woldemar von Dittmar (baltischer Jurist und Schriftsteller, 1794‒1826) in sein Tagebuch:

… Zu Frau von Ende, als diese seinen Hund füttern und derselbe seinen Gebieter nicht verlassen wollte, sagte Jean Paul: »Er liebt mich mehr als Ochsenfleisch.« Und als der kleine Emil Thibaut sich von Alert zum Andenken Haare abschneiden wollte, gestattete Jean Paul dieses und setzte dann noch hinzu: »Man liebt in Heidelberg meinen Hund so sehr, als ob er einen Band zu meinen Werken geschrieben hätte.« …

 

Übrigens, das mit dem Locken- und Haarkult betraf nicht nur den Hund, sondern auch den Dichter selbst, denn die Damenwelt seiner Zeit schnitt ihm derartig die Locken zur Reliquienverehrung ab, dass eine Unsymmetrie auf seinem Kopf entstand, die er in Bayreuth wieder richten lassen musste. Sein nächster Hund, der weiße Pudel Ponto, sollte dann ebenso Opfer der Begierden werden.

 

Mariette Zoeppritz, geb. Hartmann, schrieb 1819:

… überall, auch in größter Gesellschaft, war sein Pudel Ponto, des Dichters unzertrennlicher Begleiter. Es war ein schönes Tier, blendend weiß und fein gelockt, und man erzählte sich, daß in Heidelberg … der Mann, dem der Auftrag geworden war, den Hund zu scheren, ein großes Glück damit gemacht habe, weil sich die Damen um die Löckchen rissen und bis zu einem Dukaten für eines bezahlten! …

 

Pudel Ponto war überall dabei, auf Reisen, in den Kutschen, bei den Wanderungen, in den Gasthäusern, auf Gesellschaften und vor allem auf den Sofas in den jeweiligen Schreibstuben seines Herrn, immer auf der Nordseite dösend, so, dass der Meister seinen Kopf auf den Pudel legen konnte, einnickend, schlummernd, lesend oder denkend. Immer blieb Ponto ruhig liegen, er war es gewohnt und genoss es. Dabei sein ist alles!

 

Ludwig Rellstab, ein Musikschriftsteller aus Berlin, schrieb im August 1821 folgende köstliche Episode, die ich unbedingt hier ausführen möchte. Bei einem Besuch in Bayreuth, zunächst:

… Plötzlich rief aus der bewegten Menge eine Stimme zu mir herauf: »Guten Morgen!« Es war Jean Paul, der mitten unter der fröhlichen Jugend vorüberzog. Er hatte einen gelbbraunen Überrock an, einen schwarzen Strohhut auf und trug eine Art von Reisetasche über den Schultern, in der er seine Manuskripte bewahrte. Sein treuer gelehriger Pudel, Ponto, von dem ich noch später zu erzählen habe, sprang neben ihm her. …

 

Und dann kommt die kleine versprochene Köstlichkeit:

… Ich habe dem Leser ein kleines Anhangskapitel über Jean Pauls Hund, einen weißen Pudel, Ponto genannt, versprochen, von dessen Geschick und Verständigkeit der Herr mich gleich bei meinem ersten Besuch mit einem gewissen freudigen Stolz Proben sehen ließ. Früher hatte Jean Paul einen Spitz gehabt, dessen Haar die Damen abschnitten, um es gelockt in Ringen und Medaillons zu tragen … Ihn habe ich nicht mehr kennen gelernt und weiß von seinen letzten Schicksalen nichts allein der muntere gelehrige Pudel Ponto ist mir treu im Gedächtnis geblieben. Er mischte sich sogleich zutraulich durch Knurren, Anspringen und Wedeln ins Gespräch und erhielt die ihm verständlichen Antworten durch allerlei Liebkosungen und freundliche Zurufe, »Ich beschäftige mich gern und viel mit Tieren und besonders mit Hunden,« sagte mir Jean Paul, indem er mir seinen Ponto gewissermaßen vorstellte; »sie sind viel verständiger und feiner organisiert, als man glaubt. Geben sie nur acht, wie fein z. B. das Ohr dieses Tieres unterscheidet.»

Er bot ihm darauf einen Bissen dar, mit dem Laut »va« (kurz gesprochen). Ponto rührte ihn nicht an. Der Herr sagte ebenso kurz »da«, und der Pudel schnappte vergnügt zu. »Es liegt nicht im Ton,« erklärte Jean Paul, »denn ich spreche eins so freundlich wie das andere, ja ich will das ›va‹ freundlich und das ›da‹ zurückweisend sprechen, der Hund wird sich nicht irren.« Wirklich zeigte Ponto, daß er seiner Sache gewiss sei, und verschnappte sich im buchstäblichen Sinne des Wortes auch nicht ein einziges Mal, wie vielfältig sein Herr auch mit dem »da« und »va« wechselte …

Da mich das Spiel ergötzte, nahm der Herr plötzlich eine ernsthafte Miene an und sprach sanft verweisend: »Ponto! was hast du angestellt?« Sogleich zog der arme Ponto, ein Sünder wider Willen (wie viele Menschen auch), den Schweif ein und kroch scheu, mit bestürzter Physiognomie unter den Ofen. »Dort bleibt er liegen, bis ich ihm Verzeihung angedeihen lasse,« sagte Jean Paul. Ich fragte, ob der Hund lange dabei ausharre; »stundenlang, halbe Tage,« war die Antwort. Wirklich blieb Ponto mit dem aufgenötigten bösen Gewissen unbeweglich und traurig hinter dem Ofen liegen, bis endlich der Herr die Worte der Amnesie sprach: »Es ist schon gut, komm nur her.« Da sprang der Begnadigte freudig bellend und knurrend hervor und wußte sich im Übermaß seines Glückes kaum zu fassen.

Nach dem Häuschen der Frau Rollwenzel (Wirtin der »Rollwenzelei«, eines Gasthauses in Bayreuth. Bei ihr durfte Jean Paul die letzten 20 Jahre seines Lebens eine Dichterstube bewohnen.) hatte Ponto seinen Herrn, als wir an jenem Nachmittage dort zusammenkamen, ebenfalls begleitet. Wenn das Gespräch sich auf unserem Rückwege sich nach einer Richtung hin ausgelaufen hatte und eine augenblickliche Stockung eintrat, füllte Ponto mit seinen Künsten die Zwischentakte aus: Jean Paul beschäftigte sich mit ihm beiläufig, wie etwa ein gelehrter Raucher mit dem Ausklopfen oder Anzünden einer Pfeife unter der angestrengtesten Arbeit. Natürlich gab das freie Feld dem Hunde mehr Spielraum, seine Künste zu zeigen. Manche habe ich vergessen, so überraschend sie zum Teil auch waren, doch eines blieb mir im Gedächtnis. Auf ein ernstes Wort von seinem Herrn ging Ponto ehrsam zwei Schritte von seinem Stiefel neben ihm, ohne ihn auch nur durch den geringsten Seitensprung zu verlassen. Er marschierte streng im Gliede wie ein Soldat. Sowie jedoch der Herr die Worte »Ponto, Sassa!« aussprach, schoß der Hund mit eiligen Sprüngen in weiten Bogen ins Feld und umschweifte seinen Herren in entfernten Kreisen unter lautem, fröhlichen Gebell, die gestattete Freiheit ordentlich mit Übermut genießend. Doch mitten in die fröhlichen, burlesken Sprünge hinein erscholl seines Herren Wort (es ist mir hier gegangen wie dem Zauberlehrling, das Bannwort der Rückkehr zum Gehorsam habe ich vergessen), und auf der Stelle trabte der gehorsame Ponto wieder zwei Schritte seitwärts von dem linken Stiefel seines Gebieters ehrsam und ernsthaft dahin, und nichts, weder ein anbellender Kollege, noch selbst ein vorbeischlüpfendes Kätzchen unterbrach seine Subordination auch nur einen Augenblick …

 

So ist er, der Pudel. In Fidels jüngeren Jahren genügten Handzeichen, Hän­de­klatschen oder was auch immer zur Kommunikationsübertragung diente. Er schien das Gemeinte zu erraten, zu erahnen, zu verinnerlichen. Alles verstand er. »Und lesen und schreiben kann er auch!«, meinte Geli, eine andere Hunde­liebhaberin aus Hollfeld, unserem früheren Wohnort.

 

Heute, während ich dies schreibe, im Jahr 2016, ist Fidel 17 Jahre alt, beinahe taub und wegen des Grauen Stars fast blind. So verständigen wir uns über Geruch – leider nur hundseitig – und Erderschütterung – z. B. wenn ich ins Zimmer trete – und über Körperkontakt. Letzteres am liebsten, weil wir uns so immer beieinander wahren. So sind wir am Ende, wie alles Leben: eins

Nun das Schreckliche

Wie hoffnungsglaubenlos ziehen mich dann die anderen gefundenen Zeilen von Richard Otto Spazier (Neffe und Biograf Jean Pauls, 1803‒1854) in das immer und alles beendende Jammertal unserer Erde.

Dresden, im Mai 1822:

… Aber einen wahrhaft tief ihn empörenden und entrüstenden Auftritt bereiteten ihm eines Tages [15. Mai] die Lakaien einer adligen Familie, ich glaube, es war die des Grafen von der Malsburg (lyrischer Dichter und Übersetzer in Dresden, 1786‒1824) oder Kalkreuth (lyrischer Dichter in Dresden, 1790‒1873), wo er zu Tische geladen worden. Er hatte dorthin, wie überall, wohin er ging, seinen weißen Pudel, seinen beständigen Gefährten, mitgenommen, und derselbe war wirklich gewohnt, überall von den Frauen gepflegt und gehätschelt zu werden. Die Dresdener Adelslakaien waren aber im höchsten Grade entrüstet über die Frechheit dieses Bürgerlichen, einen Hund in das Haus ihrer adeligen Herren mitzubringen. In ihrer Wut begingen diese rohen Gesellen die Unmenschlichkeit dem Hunde brennendes Terpentinöl in die Ohren zu gießen. Hatten sie darin irgendeinem adeligen Befehle gehorcht? Genug, das arme Tier, von verzweifeltem Schmerz getrieben und Schutz bei seinem Herrn suchend, der eben an der vornehmen Tafel saß, stürzte winselnd und heulend auf denselben zu, über den mit Schüsseln, Flaschen und Gläsern besetzten Tisch hinweg, dieselben klirrend umwerfend und zum Teil zerbrechend. Mitten unter dem allgemeinen Falle erhob sich Jean Paul im tiefsten Zorne, beruhigte seinen armen Hund und entfernte sich, alle Entschuldigungen zurückweisend, »die Bestien« verwünschend, die ein armes Tier so hatten quälen können. …

 

Ich glaube, Jean Paul wollte diese scheinheilig vornehmen Hochwohlgeborenen nie wieder sehen. Wahrscheinlich waren es auch nur eitle Pseudodichterfürsten, die ihre Dienerschaft vortrefflich zu demütigen wussten, und diese Lakaien dafür wiederum, in bester Hackordnungsmanier, den nächsten verfügbaren Rangniederen zurückquälen mussten. Die ewig ewigkeitslose Melodie des Kein-Menschseins im pulslosen Erdenrund. Sicherlich war Ponto noch nicht einmal nachtragend, weil Pudel niemals nachtragend sind. 

 

So, und jetzt brauche ich definitiv was Schönes! Das ist Weißenstadt!

Auf dem Jean-Paul-Weg durch Weißenstadt
Auf dem Jean-Paul-Weg durch Weißenstadt

Ein feines, kleines Städtchen!

Irgendwie ist die Stadt, wie sie klingt. Hell und freundlich. Bisher sind wir hier immer nur durchgefahren. Wie lieb uns da schon der Marktplatz schien. Quirlige Lädchen und kleine Cafés überall. Jetzt, wo wir durch das Städtchen laufen, und hier und da nach rechts und links schauen, fügt sich alles zu einem Bild, das verspricht: Hier bist Du aufgehoben. Im Ackerbürgerstädtchen Weißenstadt.

Durch kleine Gassen, vorbei an Bauerngärten und Teichen, auf denen sich Enten tummeln, da, ein Bachlauf, und dann an der Eger entlang, so ein süßes Städtchen ist es. 

 

Ja richtig! Kommt es uns in den Sinn. Da war doch der Campingplatz am See schon so scheu und respektvoll hinter einer Hecke versteckt. Am See fanden wir auch das Hinweisschild »Auf Fußgänger ist Rücksicht zu nehmen«, es gab Hundekotbeutel, und dann die schöne Infostätte im Kurpark, wo einem wirk­lich lebendig Eger, Wasser, Natur und Fauna nahegebracht werden. Und noch besser die Öffnungszeiten: April bis November – 9 bis 20 Uhr, November bis April – 9 bis 18 Uhr, und wundervoll: dort gibt es auch ein WC!

 

Man kümmert sich hier gerne, wo anderenorts Sich-Kummer-machen wie aus der Mode gekommen scheint.

Am Kurpark steht Stationstafel 43.

Borsdorfer Äpfel – auch vom Baum der Erkenntnis

 

Mit demselben Vergnügen, womit man unter dem verwelkten Laube im Frühling einen Apfel des vergangnen Jahrs entdeckt, vermehret man seine Jugendgeschichte mit einer neuen Erinnerung.

 

Es ist mir so lieb, als wenn ichs selber wäre, daß gerade mein Held durch eine größere heitere Besonnenheit der Denkfreiheit von ihnen allen unterschieden war – ich meine jenes sokratische helle Auge, das frei über und durch den Garten der Bäume des Erkenntnisses umherblickt und das wählet wie ein Mensch, anstatt daß andre vom Instinkt irgendeinem Satze, irgendeinem Apfel dieser Bäume ausschließend zugetrieben werden, wie jedes Insekt seiner Frucht.

 

Jean Paul »Hesperus, oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung« Berlin, 1795

 

 

Man sollte sich aber freilich in allem mäßigen, im Schreiben, Trinken und Freuen; und wie man den Bienen Strohhalme in den Honig legt, damit sie nicht in ihrem Zucker ertrinken, so sollte man allezeit einige feste Grundsätze und Zweige vom Baume des Erkenntnisses in seinen Lebenssirup statt jener Strohhalme werfen, damit man sich darauf erhielte und nicht darin wie eine Ratte ersöffe.

 

Jean Paul »Leben des Quintus Fixlein – aus fünfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußtheil und einigen Jus des tablette« 1794/95 entstanden und 1796 in Bayreuth erschienen

 

 

Unter den Menschen und Borsdorfer Äpfeln sind nicht die glatten die besten, sondern die rauen mit einigen Warzen.

Als wir das Städtchen verlassen, entdecken wir auf jener Wiese wieder »unseren« Storch – oh nein, schau, es sind ja zwei! Ein Storchenpaar! Täglich sind sie uns bei der Heimfahrt eine Augenweide. Störche sind irgendwie immer da, zie­hen ihre Kreise über unserem Zuhause und wir alle wissen, wer sie sind, wir kennen sie, warten auf sie, Jahr für Jahr. Immer-daseiende-Wesen machen uns glücklich. Tief in unserer Seele brauchen wir etwas, das fern von unserem Einfluss lebt. 

 

Hilde, nicht schon wieder tiefsinnig werden! Jetzt kommt Gott sei Dank Stationstafel 44.

Schulstunde in Fluchen und Schimpfen

 

Nach diesem Normal hatten wir heute […] lateinisch das Fluchen und Schwören vorzunehmen und abzutun, womit ich noch das Schimpfen verband. […]

In Kirchenlamitz trieb uns ein Guß ins Wirtshaus, wo wir das Fluchen fortsetzten. Ich beobachtete mit einiger Belustigung das Erstaunen so pöbelhafter Menschen, als Wirtsleute sind, das sie befiel, da ich meinen Schülern – an einem solchen Schimpffeste, als die Alten wirklich am Bacchusfeste und die Ephesier am 22. Januar begingen und jetzt noch die Neuern an Weinlesen und auf der Themse – schwere Schimpfreden und Flüche aus Sachsenhausen zum Vertieren vorlegte, als: ›Der Teufel soll dich zerreißen, das Donnerwetter soll dich neun Millionen Meilen in den Erdboden schlagen‹; wobei der Lehrer immer mit Phrasen dem Lehrling unter die Arme greifen muß.

[…] Wir wurden nach und nach dem Wirte verdächtig durch mein Fluchen […]

 

Jean Paul »Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg«

Aus »Leben des Quintus Fixlein – aus fünfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußtheil und einigen Jus de tablette« 

»Fälbel« ist der 4. Text der »Jus de tablette (eine Art Brühwürfel) für Mannspersonen«

1794/95 entstanden und 1796 in Bayreuth erschienen

Der Weg nach Grub ist so schön,

dass wir heulen könnten. Wir laufen auf frisch gemähten Graswegen, die immer noch duften. Fidel springt und hüpft heiter voraus … 

Auf dem Jean-Paul-Weg – von Weißenstadt nach Grub
Auf dem Jean-Paul-Weg – von Weißenstadt nach Grub

… bis zur Stationstafel 45, welche direkt neben einem bunten Bauwagen steht.

Auf dem Jean-Paul-Weg – Stationstafel 45 »Es ist verboten«
Auf dem Jean-Paul-Weg – Stationstafel 45 »Es ist verboten«

Es ist verboten!

 

Es ist derselbe Mann, welcher die zehn Gebote an die Stubentür als an eine Gedächtnissäule ankreidet, damit der Junge sie stets vor Augen habe – welches das kräftigste Mittel ist, sie aus den Augen zu verlieren. Die meisten elterlichen und hofmeisterlichen Gebote gleichen der Inschrift auf gewissen Türen: »Tür zu«, welche dann gerade nicht zu lesen ist, wenn man die Tür offen gelassen und an die Wand gelehnet hat.

 

Wollt ihr das Heilige verwüsten, so hängt eine Gebotentabelle euch vor das Auge.

 

Verbote wirken nichts, aber Beispiele der Milde tun alles, entweder erzählte oder gegebne, Ton und Tat.

 

Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«

Der Bauwagen mit den Aufschriften »Haus der Kinder« und »Zum guten Hirten« scheint eine Art Außenstelle der Schule oder des Kindergartens zu sein.

Haus der Kinder »Zum guten Hirten« – ein Projekt der ev.-luth. Kirchengemeinde Weißenstadt
Haus der Kinder »Zum guten Hirten« – ein Projekt der ev.-luth. Kirchengemeinde Weißenstadt

Wir laufen weiter, es ist schon ganz später Nachmittag. Trotz allem, langsam schmerzen unsere Füße. Je­doch erfahren sie Salbung, denn der Weg bleibt schön und sanft. In der Ferne die blauen Berge für die Augen. Wurzeln, Baumstümpfe, duftendes Nadelholz, so typisch an heißen Abenden. Jetzt wäre ich gerne wieder ein junges, zartes Liebespärchen. Ganz jung, wie in meiner Zeit damals, als man sich noch heim­lich treffen musste, während Dämmerstunden an versteckten Plätzen …

Auf dem Jean-Paul-Weg – »Auf der Hut« vor dem Dorf Grub
Auf dem Jean-Paul-Weg – »Auf der Hut« vor dem Dorf Grub

… immer »auf der Hut« vor zufälligen Begegnungen. Schließlich könnte jeder zum Verräter des geheimen Stelldicheins werden.

 

Alles könnte passender nicht sein: Hier wartet auf uns schon lange die 3. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten«.

Auf dem Jean-Paul-Weg vor dem Dorf Grub – 3. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten«
Auf dem Jean-Paul-Weg vor dem Dorf Grub – 3. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten«

Von der Hut zum Wald

 

»Bey Weißenstadt begrenzen hohe Berge in einem halben Zirkel eine ziemlich kahle Fläche. Große wenig ergiebige Plätze, steinichte Hügel und Abhänge, dürre Huften, magere Wiesen und Teiche nehmen den größten Raum des Bezirkes ein.«

 

J. Th. B. Helfrecht, um 1800

 

 

Der Vermessungsoffizier Johann Christoph Stierlein hat 1780–1788/89 für den Markgrafen Alexander die geheime Militärkarte vom Markgrafentum Bayreuth gefertigt. Der Ausschnitt um den jetzigen Standort zeigt eine offene Landschaft, mit großer Wahrscheinlichkeit Hutflächen, ohne Bäume. Der Wald ist erst im 19. Jahr-hundert auf schlechten Hutungsflächen aufgeforstet worden. Die besseren Böden wurden zu Äckern umgebrochen. Die Melioration der Gemeinschaftsflächen und die Stallhaltung wurden in den Büchern von Helfrecht als Fortschritt beschrieben. Der hiesige sandige Boden entsprach besonders dem Kartoffelanbau. 

»Melioration« bedeutet »kulturtechnische Maßnahmen zur Werterhöhung des Bodens«. 

»Die Hut«, das waren magere, baumlose, wertlose Flächen außerhalb der Ortschaften. Hier wurde gemeinschaftlich das Vieh hingetrieben und gehütet.

Trauer in Grub

Und dann erblicken wir das zu dieser »Hut« dazugehörige Dorf: Grub! 

Wenn man sie nicht immer schon von Weitem erkennen könnte: die ge­walt­tätigen Dörfer mit ihren vielen Viehfolterhallen am Rand und den rie­sigen Fuhr­parks der Agrarkampfmaschinen. Alles EU-gefördert. Solardächer blenden, kein Dach ohne. Kein einziges, übrig gebliebenes Idyll zu finden, nur allzeit gehuldigtem Ertrag Unter­worfenes.

 

Und wie sollte es anders sein, auf dem Dorfplatz wurde Jean Pauls Stations­tafel direkt zwischen hässlichen Glas- und Müllcontainern deponiert. Aus der Ferne könn­te man meinen, es handele sich um ein Schild, wie »Ablagern von Müll und Schutt verboten«. 

Und – seltsam. Schaut man sich um, entdeckt man gegenüber­liegend den Dorfteich mitten in großer grü­ner Wiese, von hübschen Sitzbänken um­­rahmt. Aber da darf Jean Paul nicht verweilen, der gehört neben den zu er­tragierenden Recyclingmüll, »sonst machen vielleicht ja noch die vielen Wan­derer die schöne Wiese kaputt«. War das das Argument? Oder ging es um Grundstücke?

Auf dem Jean-Paul-Weg  in dem Dorf Grub – Stationstafel 46 »Kartoffel-Freuden«
Auf dem Jean-Paul-Weg in dem Dorf Grub – Stationstafel 46 »Kartoffel-Freuden«
Auf dem Jean-Paul-Weg im Dorf Grub, nicht am schönen Dorfteich stehend – Stationstafel 46 »Kartoffel-Freuden«
Auf dem Jean-Paul-Weg im Dorf Grub, nicht am schönen Dorfteich stehend – Stationstafel 46 »Kartoffel-Freuden«

Ich glaube, dass man für Grub den Text »Kartoffel-Freuden« ausgesucht hat, weil Herr Helfrecht davon sprach, dass man, wenn man auf der kargen Hut­land­schaft Kartoffeln anbauen würde, man weitaus mehr Ertrag erzielen könnte.

 

Hier Jean Pauls Kartoffel-Freuden auf Stationstafel 46.

Kartoffel-Freuden

 

In den Herbstabenden (noch dazu an trüben) ging nämlich der Vater im Schlafrocke mit ihm und seinem Bruder auf ein über der Saale gelegenes Kartoffelfeld; der eine Junge trug eine Grabhaue, der andere ein Handkörbchen. Draußen wurden nun neue Kartoffeln, soviel für das Abendessen nötig waren, vom Vater ausgegraben; Paul warf sie aus dem Beete in den Korb, während Adam an dem Haselnußgebüsche die besten Nüsse erklettern durfte. Nach einiger Zeit mußte dieser von den Ästen herunter ins Beet und Paul stieg seinerseits hinauf. Und so zog man denn mit den Kartoffeln und Nüssen zufrieden nach Hause; und die Freude, auf eine Viertelstunde weit und eine Stunde lang ins Freie gelaufen zu sein und zu Hause bei Lichte das Erntefest zu feiern, male sich jeder selber so stark wie der Empfänger.

 

Jean Paul »Selberlebensbeschreibung«

Fragment, 1818/19 geschrieben, 1826 von Jean Pauls Freund Christian Otto herausgegeben

 

Unser literarisches Küchenpersonale weiß uns dasselbe goutée [Geschmackströpfchen] unter dem Scheine sechs verschiedner Schüsseln auf das Tischtuch und in den Mund zu spielen und belustigt uns zweimal im Jahr mit einer Nachahmung des berühmten Kartoffel-Gastmahls in Paris: anfangs kam bloß eine Kartoffelsuppe – dann schon mit anderer Zubereitung wieder Kartoffeln – das dritte Gericht hingegen bestand aus umgearbeiteten Kartoffeln – auch das vierte – als fünftes konnte man nun wieder Kartoffeln servieren, sobald man nur zum sechsten neu brillantierte Kartoffeln bestimmte – und so ging es durch 14 Gerichte hindurch, wobei man noch von Glück zu sagen hatte, daß wenigstens Brot, Konfekt und Likör den Magen aufrichteten und aus Kartoffeln bestanden. – –

 

Jean Paul »Hesperus«

Nein, warum sollten wir hier ein Gasthaus besuchen? Taxi anrufen und nichts wie weg. Menschen wie wir, stören hier nur. Grub hätte man auslassen können, wer hätte es vermisst? 

 

Fidel ist heute todmüde und schläft sofort. Seine Knabber-Schweineohren dürfen für sich bleiben. Wir ziehen uns noch die Schlussfeier der Olympischen Spiele 2012 in London rein, doch die ist enttäuschend langweilig. Nur singende Weltstars. Ein Stadion mit Musik zu rocken ist doch keine Kunst im Zeitalter von DJ Ötzi und Ballermann. 

 

Oh Mann, wie kriegt man seltsam auftauchende schlechte Laune wieder weg? Obwohl doch alles heute so schön war? Komme mir jetzt bloß keiner mit »Positiv Denken« …

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